Nein heißt Nein

Ich muss mich verbessern. Ich glaube, ich hab mal gesagt/geschrieben, dass es mich stört, wenn Leute mir ihre Hilfe anbieten. Jedenfalls so etwas in die Richtung.
Das ist falsch. Ich mag, wenn Leute Hilfe anbieten. Ich weiß jetzt, was mich nervt.

Es ist immer schön, wenn Leute ihre Hilfe anbieten. Oft bin ich doch zu stolz um nach Hilfe zu fragen. Und lange Zeit hab ich auch ohne darüber nachzudenken jede Hilfe abgelehnt, obwohl ich genau wusste, dass ich es allein nicht schaffe.
Beispiel:
Ich stehe im Supermarkt. Die Schokolade, die ich will ist ganz oben im Regal (wie immer…). Ich starre sie an.
Eine Frau kommt: „Kann ich ihnen Hel-„ – „Nein, Danke, geht schon.“, unterbreche ich – ohne Nachzudenken – bereue es noch im selben Moment und nehme die billige Schokolade, aus dem unteren Fach.
Warum? Weil ich mir nicht Helfen lassen wollte.
Gerade in meiner Anfangszeit konnte ich nichts. Alle um mich mussten mir helfen. Ich konnte mich kaum bewegen. Nach der Zeit kamen mehr funktionen und Fähigkeiten zurück. Ich hab dazu gelernt. Aber ich glaube für alle um mich, war es sehr schwer, nicht zu helfen. Ich hab gerne selbst probiert. Wollte Selbstständig werden. Mit Selbstständig meine ich: Alleine Zähne putzen. Wir waren Mittags oft im Aufenthaltsraum und haben Tee und Kaffe getrunken. Mir wurde das Getränk immer vorgestellt, Strohhalm rein und ich hab getrunken. Ich wollte es wieder selbst versuchen. Ich hab Wasser eingeschenkt, die Verpackung des Teebeutels geöffnet (was mit am schwierigsten war), den Teebeutel in die Tasse, Zucker geöffnet und in die Tasse. Umgerührt. Das alles hat 20 Minuten gedauert. Das Wasser war kalt. Aber es war der beste Tee, den ich je getrunken hab. Es war mein Werk. Meine Oma war dabei und wollte immer dazwischen greifen. Ich hab jedes mal gesagt, sie soll mich lassen, ich schaff das. Und ich habs geschafft und hab immer mehr selbst geschafft, WEIL ich Hilfe abgewehrt hab. Ich wäre nie dort, wo ich jetzt wäre, hätte ich die Hilfen angenommen. Ich hätte nie gelernt, Tee einzufüllen, mich zu schminken, usw. wenn ich mir immer helfen lassen würde. Und ich glaub, ab da hatte ich diesen Tick. Jede Hilfe abzuwehern. Es war wie programmiert. Wenn ich etwas mache, muss ich mindestens zehnmal sagen: „lass mich, es geht, ich schaff das, ich wills alleine versuchen.“ Und das wurde wirklich so ein eingespielter Satz. Jedesmal das gleiche.


Und jetzt komm ich zu dem was mich stört:
Es ist nicht das Hilfe anbieten an sich. Ich freu mich, wenn jemand Hilfe anbietet. Ich habe gelernt Hilfe anzunehmen und wenn ich etwas wirklich nicht Schaffe, frage ich auch nach Hilfe. Ich kauf mittlerweile nicht mehr die billige Schokolade, sondern Frage jwmanden, ob er mir die gute Schokolade runtergeben kann. Und für beide hat es etwas gutes: die Person freut sich, einer armen Rollstuhlfahrerin geholfen zu haben und füllt gedanklich Karmapunkte auf und ich hab meine Schokolade.
ABER. ABER!! Wirklich fettes ABER.
EINMAL Hilfe Anbieten ist genug. Und wenn ich sage „Nein“ dann heißt das auch nein. Wenn ich sage „ich schaff das“ mein ich das auch so. Nein heißt Nein. Lernt das.
Wenn ich die Hilfe nicht annehme, und ich dadurch die billige Schokolade essen muss, ist das mein Problem. Aber meistens brauch ich die Hilfe dann wirklich nicht. Es ist auch ganz oft so, dass diese gut gemeinte „Hilfe“ dann nur mehr hinderlich als hilfreich ist.
Es kommt so oft vor, dass ich meine Jacke irgendwo anziehe, und wildfremde Leute herkommen und mir helfen. Ich sag „Nein, es geht“ „Bitte nicht“, aber das wird überhört und „doch doch, ich helf gern.“ Und ich falle mit meinem Oberkörper auf meine Knie nach vorne über, zwick mir meine hände ein und hab Probleme mich wieder aufzurichten. Warum? Jacke anziehen ist für mich der reinste Gleichgewichtsakt. Ich muss mich mit meinem Oberkörper nach vorne lehnen, langsam in einen Ärmel, immer das Gleichgewicht versuchen zu halten (keine Rumpfstabilität) und langsam in den anderen Ärmel. Das geht langsam, weil ich einfach die ganze Zeit ausbalancieren muss. Und dann kommen Leute an, reißen an der Jacke rum. Und solche Situationen gobt es viele. Mir wird etwas aus der Hand genommen, mir werden die Beine bewegt, wenn ich zum Beispiel in der Physio auf die Bank umsetze, ich bekomme eine Spastik und lande auf der Schnauze.
Es ist nett gemeint, ich weiß. Aber es hilft kein Stück, ganz im Gegenteil. Und wenn ich sage „Nein“ versteht das keiner. Manchmal wird ich dann nach dem dritten „Nein, bitte nicht!“ lauter und die Leute sind verdutzt. Ich versteh euch ja auch, aber versteht bitte auch mich. Nein heißt Nein. Und „Finger weg“ heißt „Finger weg.“. Egal in welcher Situation.
Ich hoffe die Leute lernen das. Und respektieren das. Es macht mich oft sehr wütend.
„Amelie du musst lernen Hilfe anzunehmen“
Ja! Ich musste lernen Hilfe anzunehmen. Und das kann ich. Aber ich muss keine Hilfe annehmen, wenn ich etwas alleine kann. Lasst mir doch das bisschen Selbstständigkeit. Warum Hilfe annehmen, wenn es funktioniert?
Warum nicht auf ein „Nein“ hören, wenn es so deutlich gesprochen wird?
Warum nicht auf den Menschen hören, dessen Körper es ist?
Warum nicht einfach mal zuhören?





Kommentare

  1. Liebe Amelie,

    vielen Dank für diese ausführliche Abhandlung, die wirklich gut erklärt, worum es dir geht und worauf es dir bei diesem Thema ankommt. Ich habe ja selbst mal kurz in den Abgrund geschaut und bin dann quasi zum Nulltarif mit dem Schrecken davongekommen, aber ich erinnere mich gut daran, wie wenig ich es nachvollziehen konnte, wenn Mitpatienten in der Reha, die es viel übler erwischt hatte als mich, konsequent jede Unterstützung abgelehnt haben, die ich schüchtern anzubieten gewagt habe. Daß Nein Nein heißt, habe ich nicht erst lernen müssen, aber ich habe mich nicht hinreichend in die Situation dieser Leute hineinversetzen können. Deshalb Danke für deinen kleinen Nachhilfeunterricht, das konnte ich ganz gut gebrauchen.
    Im übrigen freut es mich sehr, nach langer Zeit mal wieder eine längere, gut argumentierende Botschaft von dir zu sehen - du hältst uns diesbezüglich ja in letzter Zeit ein wenig kurz. Die Instagram-Bildchen mögen sicher ganz nett sein, aber ich hatte schon angefangen mir Sorgen zu machen, daß du vielleicht glauben könntest, das Jurastudium sei mit Selfies zu bewältigen. Da lese ich diesen Traktat mit großer Beruhigung :-)

    Herzliche Grüße,
    Claus

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  2. Nein ist Nein

    Du schreibst ja bei der Schokolade obwohl du sie wolltest und so weiter oben im Regal war, das du dich etwas geschämt hast Hilfe anzunehmen.

    So wäre es beim Jacke anziehen nicht eine Idee wenn du sagst das man dich bei den Schultern stützen soll und du den Rest selber machst?

    Ein Anekdote wie du die Jacke oder Hose anziehst als Video wäre aber auch toll :-P

    Schönen Abend an das hübsche Mädl hier xD

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  3. Hi, ich musste es auch lernen, wie selbständig Menschen mit einer körperlichen Einschränkung sein wollen. Der Großteil meiner Arbeitskollegen sitzt im Rollstuhl, ich bin Fußgänger Es ist ein Unterschied zwischen "Brauchst du Hilfe?" und "Warte, ich mach dir das.". Ich hebe ihnen ihren Stift auf, wenn sie mich darum bitten, ich stelle Fragen - aber ich warte auch auf die Antwort. Viele Menschen kapieren es nicht. Neben der körperlichen Einschränkung gibt es auch noch die psychische Komponente. Das ist der Teil, der überhört wird. Wenn du mit deinem Studium fertig bist, wir brauchen immer mal gutes Personal 😉 (www.zsl-koeln.de)

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